Gewerkschaften, Mindestlohn, Marxismus

Stellen wir uns vor, linke Theoretiker (höchst wahrscheinlich Slavoj Žižek voran) und Quantenphysiker würden sich zusammen tun, um eine Zeitmaschine zu bauen und Karl Marx in unsere Zeit holen, um ihn um Rat zu fragen. Was würde er wohl zur Situation unserer heutigen Gewerkschaft sagen?
Für Marx hatten die Gewerkschaften mehrere Aufgaben: Sie sollten die Konkurrenz der Arbeiter untereinander beseitigen und Arbeitsbedingungen erzwingen, die die Arbeiter über einen Status von Sklaven stellten. Sie sollten also für Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen kämpfen. Gewerkschaften sollten aber auch Organisationszentren der Arbeiterklasse sein, die die Arbeiter vor allem dafür vorbereiteten, das kapitalistische System zu beseitigen. Hier würde Marx also schon die ersten Probleme konstatieren. Unsere Gewerkschaften führen nur noch den Lohn- und Arbeitszeitkampf durch, aber arbeiten nicht mehr für die Abschaffung des kapitalistischen Systems.
Marx schrieb in seinem Werk „Lohn, Preis, Profit“: Die Gewerkschaften „verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als ein Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse.“ Dadurch akzeptieren die Gewerkschaften eine Trennung von Politik und Ökonomie.
Außerdem sind unsere Gewerkschaften zu sehr gesplittet. Dadurch können sie nicht die Kräfte der gesamten Arbeiterschaft bündeln, sondern konzentrieren sich nur auf bestimmte Bereiche und Branchen.
Wie sieht es nun, nach diesen allgemeinen Problem der Gewerkschaft, mit der gewerkschaftlichen Praxis der Tarifpartnerschaft aus? Auch hier hätte Marx wohl keine freundlichen Worte für uns. Das Wort „Partnerschaft“ suggeriert eine Zusammenarbeit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern oder einen Kompromiss zwischen Vertragspartnern. Der Antagonismus zwischen Arbeitern und Kapitalisten ist laut Marx aber ein Antagonismus, der im kapitalistischen System selbst liegt und ist daher von Natur aus unversöhnlich. Es herrscht eben ein Klassenkampf und keine Klassenpartnerschaft. Der Begriff ist also ein ideologischer und verschleiert nur die Klassengegensätze und der Klassenkampf der daraus resultiert. So würde Marx also die Schwäche unserer Gewerkschaften darauf zurückführen, dass sie das kämpferische Wesen ihrer Praxis verfehlt und dadurch zu viele Kompromisse eingeht (Womit auch die wenigen Streiks und Arbeitskämpfe in Deutschland erklärt wären).
Auch zum Thema gesetzlicher Mindestlohn würde Marx wohl ein ernstes Wörtchen mit uns reden. Der Mindestlohn bei Marx, ist der Lohn, der notwendig ist, sodass der Arbeiter sich und seine Famillie versorgen kann. Durch einen gesetzlichen Mindestlohn geben die Gewerkschaften die Bestimmung des Mindestlohns in die Hände von Unternehmen und Politikern. Die Gewerkschaften geben also einen Teil ihrer Verantwortung für den Lohnkampf ab und sagen, dass die Politiker eine bessere Vertretung der Arbeiter wären, als die Gewerkschaften. Die Gewerkschaften würden damit also sich selbst, und damit die gesamte Arbeiterbewegung schwächen. Selbst wenn die Gewerkschaften eine Mitbestimmung verhandeln würden, wäre das zu wenig. Wir erinnern uns, dass die Gewerkschaften auch dazu da sind, auf die Abschaffung des kapitalistischen Systems hinzuarbeiten.
Besonders trickreich wird das Ganze, wenn man neuere Überlegungen von linken Theoretikern mit in Betracht zieht. Žižek schreibt in „Auf verlorenem Posten“: „Was ist, wenn, im Sinne dieser Logik, eine Behinderung der unbeschränkten Herrschaft des Marktkapitalismus dessen eigentlicher Impuls ist?“ Sprich, was ist, wenn unsere sozialstaatlichen Bemühungen, oder der sogenannte „Dritte Weg“ eigentlich das ist, was den Kapitalismus stabilisiert? Was wenn ein unbeschränkter Marktkapitalismus den Kapitalismus instabil werden lassen und seine Überwindung erleichtern würde? Bezieht man solch eine Überlegung mit ein, ist ein gesetzlicher Mindestlohn eine Stärkung des Kapitalismus und damit nicht im Interesse der Arbeiterbewegung. Die Gewerkschaften haben laut Marx also ihr Ziel aus den Augen verloren. Anstatt das kapitalistische System abschaffen zu wollen, wollen sie immer besser darin integriert werden. Für Marx wären unsere heutigen Gewerkschaften also wahrscheinlich nutzlos.


Entstanden als Hausaufgabe im Rahmen der Vorlesung Politische Theorie an der Universität Erfurt.
Aufgabenstellung:

Die meisten deutschen Gewerkschaften folgen bei ihrer Interessensvertretung dem Prinzip der
autonomen Tarifpartnerschaft mit den Arbeitgeberverbänden. Unabhängig vom Staat sollen dabei
die Löhne möglichst konsensuell ausgehandelt werden. Im internationalen Vergleich kommt es
deshalb in Deutschland eher selten zu Arbeitskämpfen, Streiks etc. Trotz dieser Tarifautonomie
fordern die Gewerkschaften seit einiger Zeit einen staatlich garantierten Mindestlohn für möglichst
alle Branchen.
Analysieren Sie diese Gewerkschaftspolitik mit Marx und Engels:
1. Ist die gewerkschaftliche Praxis der Tarifpartnerschaft nach Marx und Engels eine der heutigen
Situation angemessene politische Strategie für die Arbeiterbewegung?
2. Würden Marx und Engels die aktuellen gewerkschaftlichen Forderungen nach einem gesetzlichen
Mindestlohn unterstützen?

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